Mehr Konkurrenzdruck und auf kurzfristige Resultate fixiert
Thomas Ihde, geschäftsführender Chefarzt der Psychiatrie der Spitäler FMI im Berner Oberland, verweist auf ein Phänomen, das beim Anstieg der psychischen Erkrankungen eine massgebliche Rolle spielt: «Das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld ist schnelllebiger geworden, der Konkurrenzdruck hat zugenommen, und Unternehmen sind verstärkt auf kurzfristige Resultate ausgerichtet. Das spiegelt sich nicht zuletzt auch in einem ruppigeren Führungsstil», sagt Ihde, der seit Jahren über das Thema psychische Gesundheit forscht, schreibt und referiert.
Schlechte Betriebskultur und Führung sind Risikofaktoren
Laut internationalen Erhebungen zählt eine schlechte Betriebskultur zu den grössten Risikofaktoren psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz. Zu den Negativbeispielen zählen unter anderem diffamierende Sprüche und ein respektloser Umgang. Positiv ausgedrückt geht es um Themen wie Vertrauen, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Fairness.
Ebenso zentral sind eine klare Führung sowie klare Erwartungen an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ausschlaggebend ist hierbei weniger die Art des Führungsstils, sondern vielmehr die Verlässlichkeit der Führung: «Der Mitarbeiter muss sich in der Landschaft orientieren können und eine gewisse Sicherheit haben, dass sich die Spielregeln nicht plötzlich ohne Ankündigung ändern», sagt Ihde. Firmen und Führungskräfte sollten ein angstfreies Klima bieten.
Psychologische Sicherheit steigert die Leistung
Amy Edmondson, Professorin für Leadership and Management an der Harvard Business School hat in ihrem Buch «The Fearless Organization» Edmondson nachgewiesen, dass Unternehmen massgeblich davon profitierten, wenn Angestellte sich sicher fühlten und ihr Feedback sowie ihre Kritik offen mitteilen könnten: Sie seien kreativer, es finde mehr Lernen statt, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seien bereit, auch Risiken einzugehen, und es würden weniger schlechte Entscheidungen getroffen.
In den 2010er Jahren startete Google ein Projekt mit dem klangvollen Namen Aristoteles, um herauszufinden, was effektive Teamarbeit ausmacht. Anhand der Analyse von 180 Teams gelangten die Forscher zu folgendem Befund: Die erfolgreichsten Gruppen waren stets diejenigen mit einer hohen psychologischen Sicherheit. In einem solchen Umfeld gingen Teammitglieder Risiken ein, sie konnten Fehler zugeben, Fragen stellen und neue Ideen einbringen.
«Die Erkenntnis, dass psychologische Sicherheit einen sehr starken Einfluss auf die Leistung hat, war bahnbrechend», sagt Matthias Mölleney, Leiter des Zentrums für HRM und Leadership der Hochschule für Wirtschaft Zürich. «Es wurde klar, dass es dabei nicht um die Schaffung einer Spürst-du-mich-Kultur geht, sondern um echten Mehrwert für die Firmen.» Diese Erkenntnis sei auch in Schweizer Unternehmen angekommen. Doch die Umsetzung gestalte sich schwierig. «Psychologische Sicherheit basiert auf Vertrauen. Wo Vorgesetzte Angst und Schrecken verbreiten und Leute niedermachen, sind wir ganz weit davon entfernt», sagt Mölleney.
Der Nimbus des omnipotenten Chefs bröckelt
Toxische Chefs habe es schon immer gegeben, erklärt Mölleney. Doch der Umgangston sei rauer geworden. Vorgesetzte fühlten sich vermehrt hinterfragt und angegriffen. Der Nimbus des omnipotenten Chefs bröckle. «Im Gegenzug wird den Mitarbeitern heute mehr Verantwortung übertragen, und diese setzen sich auch öfter zur Wehr, wenn ihnen etwas nicht passt», sagt Mölleney.
Firmen sollten seiner Ansicht nach verstärkt in Massnahmen zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit, zur Stärkung der psychischen Gesundheit und der psychologischen Sicherheit investieren. «Ein Umfeld, in dem Angestellte sich möglichst darauf fokussieren, keine Fehler zu machen, und ihre Meinung für sich behalten, können sich Unternehmen eigentlich gar nicht leisten», zeigt sich der HR- und Leadership-Experte überzeugt. Firmen seien auf kreative Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen, wenn sie im Wettbewerb bestehen wollten.
Firmen müssen ihre Fürsorgepflicht wahrnehmen
Dass ein Umdenken angesagt ist, zeigt auch das juristische Urteil in einem Nestlé-Fall. Dieser gilt als aussergewöhnlich, sowohl was die Länge der juristischen Auseinandersetzung, das Ausmass des Mobbing-Schadens als auch die Höhe der verhängten Lohnentschädigungen für die ehemalige Kaderfrau anbelangt. Nach 8 Jahren juristischem Hin und Her musste Nestlé CHF 2 Mio die ehemalige Mitarbeiterin auszahlen.
Dass davon eine gewisse Signalwirkung für die künftige Rechtsprechung ausgehen könnte, ist deshalb eher unwahrscheinlich. Aber Arbeitgeber dürften sich vermehrt bewusst sein, dass sie eine Fürsorgepflicht zu erfüllen haben. Und dass der Schaden hoch ausfallen kann, wenn sie dieser nicht nachkommen.
von: Nicole Rutti (gekürzt)
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